Es ist wohl das prägendste Thema unserer modernen Gesellschaft - Schuld. Sie ist allgegenwärtig, bei jedem Ereignis, bei jeder Begebenheit, in allen Teilbereichen unseres Lebens, im Großen wie im Kleinen. Es gibt immer jemanden oder etwas, der oder das schuld ist. Schuld ist ein angenehmes Konstrukt, das uns hilft, unsere Ordnung zu bewahren, Gerechtigkeit zu finden und unseren Seelenfrieden mit einem Ereignis zu haben. Schuld ist normal, berechtigt und gerecht.

Doch was ist Schuld? Ist Schuld wirklich gerecht? Oder normal? Ich möchte dich einladen mit mir auf eine gedankliche Reise zu gehen. 5 Minuten, die deine Welt vielleicht ein Stück verändern können.

Schuld ist für uns etwas ganz Normales, Erklärbares, Logisches. Denken wir.

Ich geb dir mal ein Beispiel, das du sicher nachvollziehen kannst: Du bist auf ner Feier eingeladen, hast irgendwas von dir irgendwo kurz ganz "blöd" hingestellt/abgestellt und jemand, sagen wir ein Freund, stolpert darüber und fällt hin. Schuld? DU, ganz klar. Dieser Freund ist so blöd gefallen, dass ihm seine rechte Hand verdammt weh tut. Ihr fahrt ins Krankenhaus und nach dem Röntgen steht fest, dass sein Mittelhandknochen gebrochen ist. Falls du's nicht weißt, so ein Bruch ist ziemlich kompliziert und dauert lange, um zu heilen. Deswegen muss dein Freund gleich dort bleiben, weil der Bruch operiert werden muss und ein längerer stationärer Aufenthalt im Spital ist auch noch fällig. Mist. Wer ist schuld? DU, leider. Nur, weil du dein Zeug so "blöd" hingestellt hast. Tja. Jetzt kommt's noch blöder. Dein Freund wollte eigentlich übermorgen nach London fliegen, um Verwandte zu besuchen. Flug und so hat er alles schon gebucht. Daraus wird jetzt natürlich nichts mehr. Also keine Verwandten, die er schon ewig nicht gesehen hat, kein Shoppen, kein Ausgehen, kein Sightseeing und keine tolle Zeit in London für deinen Freund. Und der 300-Euro-Flug lässt sich auch nicht mehr stornieren. Und, wer ist schuld dran? Schon wieder DU!

Wo fängt Schuld an? Und hört Schuld auch irgendwo auf?

Da hast du deinem Freund aber ordentlich was angetan. Eine mittelgroße Tragödie, nur wegen dir. Aber warte, es geht noch weiter. In den zwei Wochen, die dein Freund leidvoll nach der OP im Spital verbringen muss, lernt er eine Krankenpflegerin besser kennen. Die beiden haben in der Zeit einige tolle Gespräche, lachen viel und entdecken sehr viele Gemeinsamkeiten. Irgendwie funkts, die beiden treffen sich nach seinem Spitalsaufenthalt weiter, gehen ins Kino, was trinken, zusammen ins Museum, reden noch mehr, lachen zusammen und verlieben sich voll in einander. So, wer ist schuld dran? Ach ja, noch immer DU! Geht trotzdem noch weiter. Mit seiner neuen Flamme rennt's zwar jetzt super, dafür hat dein Freund - wir nennen ihn jetzt einfach Peter - ein anderes Problem. Der Bruch verheilt zwar, aber die Beweglichkeit und das Gefühl in seiner rechten Hand sind leider nicht mehr die Selbe wie davor. Seinen bisherigen Job als Grafiker kann er so nicht mehr machen, die Bewegungen mit Stift, Tablet und Maus gehen einfach nicht mehr fein genug. Nach einiger Zeit im Krankenstand kriegt Peter die Kündigung und ist seinen Job los. Verdammt. Da hast wohl DU die Schuld dran. Peter ist jetzt, so ganz ohne Job, einerseits oft ziemlich schlecht drauf, andererseits festigt sich dadurch auch die Beziehung zu seiner Krankenpflegerin. Sie ist mehr als 100%ig für ihn da, was er sehr wertschätzt. Die beiden haben sich anscheinend wirklich gefunden. In ihren Gesprächen entdecken sie, dass beide schon immer die große weite Welt sehen wollten. Und nach drei Monaten steht es fest, sie lassen alles hinter sich, nehmen ihre Ersparnisse und begeben sich auf Weltreise. Die Mietverträge gekündigt, nur mit Rucksack und Mut bewaffnet, geht's auf ins Ungewisse. Sie starten ihre Reise in Asien. Peter hat ne unglaubliche Zeit, sieht Thailand, Kambodja und Vietnam, alles zusammen mit der Liebe seines Lebens. Du siehst Fotos von ihm auf Facebook, auf denen er lacht, wie du ihn noch nie zuvor lachen sehen hast. Und wer ist schuld an dieser Veränderung? Ja, eigentlich DU. Peter und seine Freundin machen noch weitere Kontinente unsicher, tanzen in Indien, fischen in Australien und ja, geheiratet haben sie dort übrigens auch.

Ist das das Ende von Schuld?

Alles nur wegen dir? Na ja, ohne dich und das Ding, das du damals so "blöd" und unachtsam hingestellt hast, wäre Peter wohl nie dort gelandet, wo er jetzt ist. Er hätte sich nicht die Hand gebrochen. Er hätte im Spital nie seine Traumfrau kennengelernt. Er hätte nie seinen Job aufgeben müssen. Er hätte diese Reise mit all ihren tollen Eindrücken nie erlebt. Und er hätte wohl nie seine Traumfrau in Australien geheiratet. Klingt komisch? Es geht weiter, diesmal ein bisschen im schnellen Vorlauf: Sie wird schwanger, die beiden kommen deswegen zurück von ihrer Traumreise. Finanziell ist's zwar schwer, aber beide sind super glücklich als ihr kleiner Sohn geboren wird. Wow, ein Kind! Peter findet so schnell keinen neuen Job, rutscht in ne kleine Depression, deswegen trennen sich die Beiden fast. Sie zieht kurzfristig mit ihrem Sohn zu ihrer Mutter. Peter ist am Boden. Mist! Peter trifft durch einen glücklichen Zufall einen alten Bekannten. Peter's Erfahrungen im Marketing sind dem Bekannten viel Wert und er nimmt ihn als Partner in seine Agentur auf. Peter verdient jetzt viel mehr als früher, findet neuen Schwung, versöhnt sich mit seiner Frau und die Familie zieht in ne schöne neue Wohnung. So stabil und glücklich war Peter noch nie zuvor. Schuld? Ja, DU.

Peter könnte, und wird, in seinem Leben noch viel passieren. Alles wird irgendwann und irgendwo mit dem einen Ereignis zu tun haben, das DU verursacht hast. Vielleicht lebt Peter deswegen sogar ein paar Jahre mehr, weil sein Leben glücklicher verläuft. Oder weniger, weil er jetzt mit dem neuen Job oder der Familie mehr Stress hat. Er wird sich vielleicht später mal von seiner eigentlichen Traumfrau trennen und sich scheiden lassen. Vielleicht bekommen beide noch eine Tochter und bleiben auf ewig glücklich. Vielleicht stirbt sein Sohn irgendwann bei einem Autounfall. Vielleicht stirbt Peter irgendwann als glücklichster Mensch der Welt. Vielleicht. Und wer hat Schuld? Schon irgendwie DU.

Das Ende.

Alles in Peter's Leben ist also irgendwie mit deiner unachtsamen "Blödheit" von damals verbunden. Was ich dir noch nicht gesagt habe: Peter war damals auf der Feier schon ein wenig angetrunken und ist nur deswegen gestolpert. Du hast dich damals vor der Feier mit ner Freundin am Telefon verplaudert, bist gestresst dort hin gekommen und hast nur deswegen dein Zeug so unachtsam abgestellt. Peter wollte nur genau dort vorbei, wo dein Zeug steht, weil er für ne hübsche Frau noch ein Bier holen wollte. Die Feier gab's nur, weil jemand mit euch gerade seine Beförderung feiern wollte, in seiner eigentlich viel zu kleinen Wohnung. Peter ist übrigens über deinen Rucksack gestolpert, den du mit hattest, weil die Jacke von ner Freundin drin war, die sie letztens bei dir vergessen hatte. Sonst wäre das alles nicht passiert.

Und wer hat jetzt Schuld? Bist du schuld? Sind wir schuld? Was ist Schuld eigentlich?

Und kannst du dich an den Schmetterling erinnern, der mit seinem Flügelschlag einen Taifun am andern Ende der Welt ausgelöst hat? Der ist auch schuld. Hiermit heiße ich dich willkommen - im Club der neuen Unschuldigen.

Mehr zum Thema gibt's demnächst hier. 

Alles ist. Dein FlowChi